entfaltet: Krisenregionen
Wer eine der Boxen des Hannoveraner Fotografen Wolf Böwig öffnet, braucht einen langen Atem. Tiefe Einblicke in Krisenregionen entfalten sich in Gestalt bedruckter, perforierter Bildbahnen, die vielfältig angebracht, ausgelegt und genutzt werden können. Nicht das Einzelbild in Edelmatt liegt hier vor einem, sondern dichte, fein gewobene Reportagen als dokumentarische Erzählungen aus Fotografien, Bildern von Artefakten, Texten und Zitaten. Böwig hat die Idee der Box zusammen mit dem Grafikdesigner Christoph Ermisch entwickelt, um seine fotografischen Langzeitdokumentationen ohne den großen Aufwand einer konventionellen Ausstellung präsentieren zu können.
Den Betrachtenden werden die Bilder – und das, was sie zeigen – gleichsam an die Hand gegeben.
Was enthalten die Boxen? Seit einem Vierteljahrhundert bereist Böwig zahlreiche Krisenregionen unserer Welt, vor allem im östlichen Europa, in Afrika und in Asien. Das Wort „Krisenregion“ ist in den Medien selbst erst seit den 1990er Jahren geläufig. Mit ihm sind inzwischen unzählige Nachrichtenbilder von Gewaltakten und Staatszusammenbrüchen, Kriegen und Katastrophen verbunden. Wir nehmen solche Länder und Gebiete primär durch vertraut gewordene Bilder von Gewaltakteuren, zerstörter Infrastruktur und leidenden Menschen wahr, aber auch durch Aufnahmen militärischer Interventionen und humanitärer Hilfsmaßnahmen. Diese moralische Ikonographie ist wiedererkennbar, gebrauchsfertig und bis zu einem gewissen Grad austauschbar.
Wolf Böwig hat vor geraumer Zeit einen Weg eingeschlagen, der sich nicht dem Diktat der medialen Aktualität fügt, dem schnellen Bild, das abends in der Tagesschau, morgens in der Zeitung oder in raschen Austauschintervallen im Internet zu sehen ist. Böwig erarbeitet über längere Zeiträume Bildprojekte zu einzelnen Regionen. Er kehrt dorthin mehrfach und teils Jahre später zurück, bleibt über Wochen und Monate im Land, nimmt sich bestimmte Themen vor und schichtet so Zeitbilder in seinem Archiv auf, die mit- und untereinander auf vielfältige Weise verbunden sind.
Die doppelte Distanz des fremden Fotografen, der nicht von dort kommt, wo zudem die Linse zwischen ihm und den Einheimischen steht, wird durch seine profunde Kenntnis der Orte, der Menschen und ihrer Geschichten gebrochen.
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Wenn unser Bild von „Krisenregionen“ vor allem durch optische Momente des Zusammenbruchs fotografisch und filmisch geprägt ist, dann bettet Böwig diese zu kurz geratenen Eindrücke breiter und tiefer ein. Seine Skepsis gegenüber der hypermobil gewordenen Nachrichtenfotografie ist bis in die verwendete Technik hinein spürbar, so, wenn eine analoge Panoramakamera zum Einsatz kommt. Auch sie zeugt noch von den Anfängen der Fotografie im 19. Jahrhundert als Medium eines optimistischen Zeitalters und eines scheinbar unaufhaltsamen Weges zu Fortschritt, Frieden und Freiheit. Doch Böwigs Bilder dokumentieren mit historischem Tiefgang und über den Tag hinaus, dass es ganz anders gekommen ist. Die Fotografie ist als Medium mit der modernen Gewalt groß geworden. Nun schwimmen wir in Bilderfluten von Menschen und ihren Räumen, die wie Kartenhäuser zusammenbrechen, mit roher Brutalität zerstört werden oder unter großen Mühen versucht wird, Leben zu retten.
Eigentlich sind Fotografien Einbrüche in den unaufhaltsamen Verlauf der Zeit – Momente, die es ohne sie nicht gäbe. Weil jemand die Kamera an einen Ort gebracht, sie auf etwas gerichtet, ihren Auslöser gedrückt hat. Im besten Fall sind Bilder Interventionen. Was wir aber meist zu sehen bekommen, sind Konventionen: Dinge werden für unsere Sehgewohnheiten passend dargestellt, damit wir unser Leben nicht unterbrechen müssen. Terror in der Tagesschau: Selten halten wir über den Schrecken hinaus inne, werden gepackt, kommen aus dem Takt.
Der Fotograf Wolf Böwig hingegen will intervenieren, ohne sich marktgängigen Kompositionen anzubiedern. Während der Klick einer Kamera heute gar keiner mehr ist, bleibt Böwig vor Ort, kehrt zurück, gibt Konflikten durch seine visuellen Erzählungen eine Geschichte. Wir sehen, wie sich Gewalt in Räume und ihre Menschen eingegraben hat, wie sie ihr zu entkommen versuchen. So sind die Bilder und Reportagen als Palimpseste zu entziffern. Sie führen uns zu jenen Menschen, denen Wolf Böwig als ihr Augenzeuge begegnet ist. Die Reportagen sind dem Strom des Vergessens abgewonnene Speicher von Verwerfungen und Zerstörungen, von Flucht und Verlorenheit, aber auch von widerständigem Überleben und neuen Anfängen.
Böwig übersetzt so den Begriff der „Krisenregion“ in Bilder, ohne seine Verkürzungen zu teilen – im Gegenteil. Seine Reportagen sind immer auch als visuelle Kommentare der „westlichen“ Deutungen zu verstehen, die es sich oft zu einfach machen, weil sie zu wenig wissen und nicht genau hinsehen. Bilder sprechen uns dabei anders an als Texte, sie wirken schneller, bleiben länger präsent und mobilisieren unsere Emotionen stärker. Zugleich sind sie weniger eindeutig als Sprache, bedürfen der Erläuterung, zumindest aber allgemeiner Informationen, und funktionieren nicht rationalisierend und argumentativ, sondern assoziativ und narrativ.
Wie jede Ausdrucksform sind Bilder die Übertragung eines Momentes, an dem der Aufzeichnende teilhat, in ein Medium, das sich Betrachtenden später öffnet. So, wie es die Box tut. Sie enthält eine Auswahl von Böwigs Reportagen: „Borders and Beyond“ für Osteuropa, das „Black Light Project“ für Liberia und Sierra Leone, „Migozarad“ für Afghanistan und Pakistan. Bei allen Unterschieden haben die in den Projekten dokumentierten Regionen einige Gemeinsamkeiten.
Erstens: Es handelt sich um Staatsräume, die in unterschiedlicher zeitlicher Nähe zu kolonialen Herrschaftserfahrungen und westlichen Interventionen stehen. Diese wirken bis heute fort, ihre wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Folgen bilden das dunkle Erbe des westlichen Kolonialismus.
Zweitens: Im Unterschied zu den souveränen Nationalstaaten in Europa und Nordamerika haben sich hier in langen Traditionen gründende, partikulare Gemeinschaften erhalten, die mit zentralen nationalen oder staatlichen Identitätsangeboten konkurrieren und eigene Souveränitätsansprüche erheben.
Drittens: Gemessen am westlichen Ideal des staatlichen Gewaltmonopols sind entsprechende Institutionen wie Recht, Polizei oder Verwaltung und ihre Durchsetzungsmacht schwächer ausgeprägt. Es mangelt an einer Kultur des Staatsvertrauens, auch weil diesen Regionen eine Erfolgsgeschichte fehlt, die sich in sozialer Absicherung oder der Abwehr von physischer Gewalt produziert und reproduziert.
Viertens: Nichtstaatliche Akteure wie Clans, Warlords oder Wirtschaftsführer verfügen über eine große Eigenmacht und sind mit starken Ressourcen wie Geld, Waffen sowie der Loyalität ihrer Anhänger ausgestattet.
Fünftens: Die Staatsgebiete sind prekär, Grenzen nicht gesichert oder anerkannt, sie sind zum Teil seit Jahrzehnten Anlass für Konflikte und Kriege. Andererseits decken sich kulturell, historisch oder ethnisch geprägte Räume nicht mit den politischen Grenzziehungen postkolonialer Neuordnungen.
Die Leidtragenden, aber oftmals selbst auch Akteure dieser Strukturen, die inzwischen weithin als „gescheiterte“ oder „fragile“ Staaten bezeichnet werden, sind Zivilisten. Böwigs Fotografien machen die Menschen dieser Regionen in ihren Räumen nicht zu Statisten eines Wahrnehmungsmusters, das die Krisen dieser Regionen mit dem Fehlen einer Staatskultur oder gar Demokratie nach „westlichem“ Muster zu erklären versucht.
Wer den Menschen gerechter werden will, muss genauer hinschauen – mit einer Mischung aus Irritation und Respekt den Eigensinn von Selbstbehauptungspraktiken und ihre lang gewachsenen kulturellen Logiken zu erkennen versuchen.
Dies gelingt nur denen, die genauer hinsehen, die Bilder nicht nur an sich vorbeirauschen lassen, sondern ihnen einen Raum der Entfaltung geben. „exhibit out of a box“ ist dafür ein passendes Medium: In seiner Handwerklichkeit und zugleich der Verweigerung von Präsentationsoptiken, die Distanz schaffen, liefert die Box Bilder als Arbeitsmaterialien, die sich nach und nach entfalten, mit denen die Betrachtenden kleinere oder größere Strecken mitgehen können, die sich auch ganz praktisch untereinander teilen lassen.
Die Entfaltung aus der Box legt dabei gerade nicht ein abschließendes Verstehen nahe – weder der Bilder noch der Regionen, ihrer Menschen und ihrer Räume. Sie spiegeln deren historische und gegenwärtige Traumata, ohne sie wirklich zeigen zu können. Sie führen uns an notwendige Grenzen des Zumutbaren, ohne uns sprachlos machen zu wollen. Vor allem sind die Bilder keine ephemere Illustration von Szenarien, die wir zu kennen glauben, sondern entfalten sich als widerständige Artefakte, die uns mit allem Recht, das die Würde des Menschen gebietet, nicht mehr aus den Augen lassen.
Prof. Dr. Habbo Knoch,
Historisches Institut, Universität zu Köln